Mindestsicherung: Stöger will keine Ausnahmen

Werbung für „Integrationsjahr“

Die Debatte über die Höhe der Bezüge und eine eventuelle Deckelung der Leistungen bei der Mindestsicherung reißen nicht ab. Noch mehr Stoff dafür lieferten erst am Wochenende Zahlen für Wien. Am Sonntag sprach sich Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) für Augenmaß aus, generelle Ausnahmen wolle er keine.

Die Rufe nach einer Reform waren erneut laut geworden, nachdem das Nachrichtenmagazin „profil“ am Samstag von einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) im Auftrag der Stadt Wien berichtet hatte, laut der die Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) in der Bundeshauptstadt für immer mehr Menschen zum „Dauerzustand“ anstatt zum Überbrückungsmodell werde. Insbesondere Asylwerber hätten es schwer, auf eigene Beine zu kommen.

Zahlen werden „leicht ansteigen“

Bezieher gab es laut Stöger im Jahr 2015 bundesweit etwa 285.000, er erwarte, dass die Zahlen „leicht ansteigen“, wie er in der „Pressestunde“ sagte und verwies als Begründung auf das Problem, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für schlechter qualifizierte Personen fehlten. Es müsse mehr Jobs geben, die „auch arbeitbar für viele Personengruppen“ seien.

Sachleistungen müssen laut Stöger garantiert sein

Angesprochen auf den Bericht des „profil“, in dem es auch heißt, dass vergleichsweise immer mehr Personen mit osteuropäischen Staatsbürgerschaften die Mindestsicherung in Anspruch nähmen, verwies der Sozialminister darauf, dass diese noch stärker gefährdet seien, den Job zu verlieren als Österreicher. Es gebe eine Korrelation mit dem Arbeitsmarkt, das Armutsrisiko dieses Personenkreises sei vergleichsweise höher als das von Inländern.

„Geschichten“ und „Extremfälle“

„Geschichten, die da in den Medien verbreitet werden“, seien Einzelfälle, sagte der Minister zu einzelnen kolportierten Zahlen, die in den letzten Tagen auch die Runde durch die Sozialen Netzwerke gemacht hatten. Die „Kronen Zeitung“ etwa zählte „Extremfälle“ auf: Ein Asylwerber mit Frau und Kindern soll 3.300 Euro pro Monat erhalten, „ein erst seit Kurzem aslyberechtigter Migrant“ wolle Frau und 15 Kinder nachholen und könnte dann 6.600 Euro erhalten.

Geldleistungen zu begrenzen könne sich Stöger vorstellen, wichtig sei aber, dass Sachleistungen wie eine Wohnung angeboten würden. Bei Flüchtlingen brauche es tatsächlich „andere Antworten“, sagte der Sozialminister. Die müssten gut betreut werden, Stöger verwies auf das von ihm vorgeschlagene „Integrationsjahr“. Außerdem müssten Asylentscheidungen binnen sechs Monaten da sein, damit sich die Menschen orientieren könnten. Bei einem positiven Bescheid müssten die Asylwerber rasch Sprachkurse belegen könnten, es müssten ihre Qualifikationen („Kompetenzchecks“) erhoben werden.

„Wir reden von Menschen“

Generelle Sonderregelungen bzw. Ausnahmen für bestimmte Personengruppen will Stöger nicht. „Wir reden von Menschen, wir reden von Armut“, sagte er in der „Pressestunde“. Hier sei der „Reisepass nicht entscheidend“. Er warne davor, einzelne Personengruppen auszuklammern. Er stelle die Frage, welche Gruppe dann die nächste sei - „da warne ich davor“. Das Integrationsjahr sei „maßgeschneidert“. Aber: Stöger erwartet sich auch Gegenleistungen von Flüchtlingen bzw. Zuwanderern: Integrationsbereitschaft, Akzeptanz demokratischer Werte, „dass sie sich an Regeln halten“.

Angesprochen auf das Thema Ein-Euro-Jobs sagte Stöger: „Das müssen Sie die ÖVP fragen.“ Er habe „das aus Medien erfahren, diese Diskussion“. Ihm gehe es um Arbeitsplätze generell, so der Minister. Menschen müssten „unter vernünftigen Bedingungen arbeiten“, dazu brauche es Kollektivverträge. Diese zu reduzieren, halte er für problematisch. „Plakative Zugänge“ brächten nichts.

Mindestsicherung als „Dauerzustand“

In der zitierten WIFO-Studie heißt es laut „profil“, dass die BMS in Wien für immer mehr Menschen zum „Dauerzustand“ werde. Mit Jänner 2015 seien zwei Drittel der Bezieher länger als 13 Monate durchgehend auf Mindestsicherung angewiesen gewesen, 45 Prozent, die den Absprung schafften, seien nach zwei bis drei Monaten erneut auf Unterstützung angewiesen gewesen. Nur neun Prozent hätten es in eine dauerhafte Beschäftigung geschafft.

Maßgeblich für den Anstieg seien Flüchtlinge gewesen. Eine Prognose bis 2017 ergäbe ein Plus von 35 Prozent seit 2014, dem Jahr vor der Flüchtlingswelle. Ohne Flüchtlinge wären es 15 Prozent. „Für Asylberechtigte sind die Aussichten, die Leistungsabhängigkeit durch Aufnahme einer Beschäftigung zu überwinden, besonders ungünstig“, zitiert das „profil“ aus der Studie.

Höchstgrenze bei Geldleistungen

Die Wiener Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) deutete Kompromissbereitschaft bei der Reform der Mindestsicherung an: „Man kann die Frage stellen, welche Integrationsangebote angenommen werden müssen, um die volle Mindestsicherung zu erhalten“, sagte sie gegenüber dem „profil“. Für die „besondere Situation in der Mindestsicherung durch die Flüchtlinge müssen neue Antworten gefunden werden“, so Wehsely. Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) hatte in der Vergangenheit Kürzungen für Asylberechtigte stets abgelehnt.

Die Diskussion über die von der ÖVP verlangte Deckelung bei 1.500 Euro zeige, dass es nicht um Sachfragen gehe, sondern um „Propaganda“, befand Wehsely am Samstag im Ö1-„Im Journal zu Gast“. Dennoch gab sie sich diskussionsbereit: Bei der Leistung an sich dürfe es keine Deckelung geben, sehr wohl könne man aber über eine Höchstgrenze der Geldleistung reden, wenn mit verstärkten Sachleistungen aufgestockt werde.

„Handlungsbedarf“ zwischen AMS und Wirtschaft

Beim Thema Arbeitsmarkt sah Stöger in der „Pressestunde“ am Sonntag „Handlungsbedarf“ in der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsmarktservice (AMS) und heimischen Unternehmen. Trotz der Wirtschaftsnähe des AMS gebe es inakzeptable Entwicklungen, etwa in der Gastronomie und im Tourismus, „wo die Lehrlingszahlen leider zurückgegangen sind“. Insgesamt konstatierte Stöger, dass „wir in Österreich einen dynamischen Arbeitsmarkt haben“. Es gebe kurzfristige Jobs, die keine Lebensperspektive böten - aber heuer im August habe es um 57.000 Jobs mehr gegeben als ein Jahr zuvor.

Auch in den nächsten Jahren würden die Arbeitslosenzahlen in etwa auf dem derzeitigen Niveau bleiben. Im Jahresschnitt 2015 lag die Quote bei 9,1 Prozent. Die Ausbildungspflicht nach der Pflichtschule sei ein Schritt, um die Quote längerfristig zu senken. Alle Menschen sollten außerdem eine zweite Chance bekommen, wenn sie sich beruflich umorientieren wollen - dafür diene das Fachkräftestipendium, sagte Stöger.

ÖVP sieht „Möglichkeit zum Kompromiss“

„Ankündigungen machen noch keine Reformen“, sagte ÖVP-Generalsekretär Werner Amon zum Auftritt Stögers in der „Pressestunde“. Dennoch gebe es Hoffnung, „dass die Regierung in einigen Zukunftsfragen Einigkeit demonstrieren und einen gemeinsamen Kraftakt hinlegen kann“.

Er sehe vor allem bei den Themen Mindestsicherung und Integration „die Möglichkeit zum Kompromiss“. Positiv sei, „dass die Diskussionsbereitschaft, und damit ein Schwenk auf ÖVP-Linie, für eine Deckelung der Geldleistung bei der Mindestsicherung größer werde“. Auch ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka sah einen „ersten Schritt in die richtige Richtung“ - „spät, aber doch“, konnte er sich allerdings einen Seitenhieb nicht verkneifen.

„Lehrbeispiel an Schönrederei“

Stöger habe in der „Pressestunde“ geradezu ein „Lehrbeispiel an Schönrederei und Realitätsverdrängung“ geliefert, befand FPÖ-Sozialsprecher Herbert Kickl. Die Rekordarbeitslosigkeit sei vor allem „Ergebnis des ungebremsten Zustroms von Arbeitskräften aus Osteuropa“ und werde „durch den massenhaften Zuzug von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen noch verstärkt“. Schließlich führe an einer klaren Differenzierung zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern bei der Mindestsicherung kein Weg vorbei. Alles andere würde „die Magnetwirkung“ des Sozialstaates Österreich noch erhöhen.

Die Sozialsprecherin des Teams Stronach (TS), Waltraud Dietrich, befand in einer Aussendung: „Wenn wir unseren Sozialstaat erhalten wollen, dann müssen wir das System der Mindestsicherung schleunigst und umfassend reformieren.“ Anerkannte Flüchtlinge sollten nicht sofort die volle Mindestsicherung erhalten, sondern mit einer Kombination aus Geld- und Sachleistungen ausgestattet werden, „bis sie längere Zeit einer geregelten Arbeit nachgegangen sind. Alles andere wäre gegenüber den österreichischen Steuerzahlern weder fair noch richtig“, so Dietrich.

NEOS attestierte dem Sozialminister einen Hang zu „vorbereiteten Stehsätzen“, egal, wonach er gefragt werde. Während in fast allen EU-Staaten die Arbeitslosigkeit sinkt, „schaut der österreichische Sozialminister den Rekordarbeitslosenzahlen in Österreich achselzuckend zu“, so NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker in einer Aussendung. „Auf Basis der Zahlen, die sein eigenes Ministerium nach der Logik des Feng-Shui so lange herumdreht, bis sie schön aussehen, verabreicht der Minister den Bürgerinnen und Bürgern Beruhigungspillen.“

Schützenhilfe von Grünen

Unterstützung für Stöger kam von der grünen Sozialsprecherin Judith Schwentner. Eine Kürzung der Mindestsicherung dürfe für einen SPÖ-Minister nicht infrage kommen. „Halten Sie den Kurs“, empfahl sie Stöger. „Wir müssen die steigende Armut in Österreich bekämpfen und nicht die Armen“, so Schwentner. Wer sich an der Mindestsicherung vergreifte, „produziert Armut in Österreich, die langfristig den sozialen Frieden gefährden wird“. Das sei „all den sozialen Brandstiftern ins Stammbuch geschrieben“, so die grüne Sozialsprecherin.

Tourismusbranche will Vorwürfe entkräften

Tourismus-Spartenvertreterin Petra Nocker-Schwarzenbacher setzte Stöger in einer Reaktion auf seine Aussagen zu Lehrlingszahlen entgegen, dass das Problem oft daran liege, „dass Jugendliche und vor allem auch ihre Eltern oft ein falsches Bild von der Arbeit im Tourismus haben“. Die Obfrau der Bundessparte Tourismus und Freizeitwirtschaft in der Wirtschaftskammer meinte, dass Jugendliche vom Arbeiten am Wochenende abgeschreckt würden und dass es „mehr Bereitschaft zu Mobilität bräuchte“. Oftmals an einem Tag geteilte Arbeitszeiten und eine zu anderen Branchen tendenziell etwas geringere Entlohnung erwähnte sie nicht. Jedenfalls wolle man sich nicht von der Politik schlechtreden lassen.

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